von FSF » 24.10.2004 (16:09)
Björk ? Medulla
Die ständige Kontrastverknüpfung der westlichen Zukunftsmoderne und ihrer isländischen Heimattradition in ihren tiefgründigen Sinnesexperimenten, charakterisiert ziemlich passend die 90er-Ausnahmekünstlerin Björk Gudmundsdottir und ihr aktuelles Schaffenswerk ?Medulla?. Zu Deutsch lässt sich dies etwa mit dem Wort ?Mark? (im anatomischen Sinne) übersetzen, welches den sensiblen inneren Fundamentalbestandteil des menschlichen Körpers bezeichnet, in den die Hauptprotagonistin auf dem ?Vespertine?-Nachfolgealbum schlüpft. Von dort aus beschränkt sie sich auf das Element, welches sie mit Abstand am besten beherrscht: Den Gesang.
Ihr habt richtig verstanden! Die menschliche Stimme wird das einzigste Instrument sein, was ihr auf diesem Longplayer finden werdet. Doch wer Björk kennt, weiß, dass ihn kein brottrockenes Eisinselpendant zu den Prinzen oder Wise Guys zu erwarten hat. Gewohnt komplex transportiert sie ihren Generationenkonflikt stimmlich auf einen weiteren Silberling, bei dem man zuerst nicht so wirklich durchblicken mag.
Dass Björk gerne und viel reist, wissen wir nicht nur durch ihren großen Auftritt bei der diesjährigen Athener Olympiade. Neben ihrer seriösen Vertiefung ins Menscheninnere nimmt sie uns auf ?Medulla? des öfteren mit in den kalten Norden, den sie uns durch Minimalistik und Natürlichkeit so nahe wie möglich bringen möchte.
Die Idee des Albums entstand auf kleineren Parties, auf denen Björk mit Freunden fröhlich Liedchen sang. Vielleicht lernte sie dort ja auch einige ihrer Gastrapper von ?The Roots? oder ?Faith No More? kennen, die der Skandinavierin beim Beat der Platte aushalfen. Obwohl sich alles um die pure natürliche Stimme in ?Medulla? dreht, bedeutet das nicht, dass nicht auch ein wenig mit Maschinen nachgeholfen wurde. Mit Effekteinsatz und Digitaleditierung ließ sich aus so manchem Kehlkopf eine Basedrum schrauben, mit der der intelligente VocalTrip-Hop erst realisierbar wurde. Von der futuristischen Natürlichkeit in ?Oceania? beispielsweise, pendelt Islands Exportprodukt Nummer 1 aber auch ab und an zu heimatlichen A Cappella Sätzen, unter denen auch eins in isländischer Landessprache zu finden ist.
Durch den absichtlichen Verzicht auf weiteres Instrumentarium, steht Björks Ausnahmestimme noch mehr im Zentrum als zuvor. Ob dies nun eher selbstdarstellerisch oder experimentell rüberkommt, entscheidet die Perspektive von der aus man die Platte betrachtet. Besonders den nordischen Vaterlandsausflügen fehlt eine unterhaltende Seite, die dem Experimentsrisiko ein wenig den Wind aus den Segeln nimmt. Für den Einen mag das neue Album eine einseitige Heimatattitüde sein, doch wer ?Medulla? in einem anderen Licht sieht, kann vielleicht auch mehr als nur die schwarze Schrift im schwarzen Booklet entziffern...